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Friday, April 3, 2009

"Ich bin nur Geist"

Im Seminar diskutierten wir zwei Arten, Vom Schnee zu lesen: Wir nannten die eine die 'naive Lesart', nach welcher Teil I vom jungen Denker Descartes in Deutschland, seinem die sinnliche Sphäre repräsentierenden Diener Gillot und dessen Geliebten Marie handelt. Eine komplexere Lesart ist dann diejenige, welche Gillot als sinnlichen Teil und inneren Monologpartner von Descartes ansieht, der sich damit selbst als reinen Geist versteht. Wie üblich ist die komplexere Lesart erst nach einer ersten, naiven Lektüre zugänglich. Dieser Beitrag versucht, herauszufinden, auf welche Art das Verhältnis eigen ist gegenüber anderen Texten, in welchen zwei Figuren sich als Teile einer 'wahren' (immer noch fiktiven) Figur herausstellen (Chuck Pahlaniuks Fight Club könnte als Gegenbeispiel der jüngeren Vergangenheit dienen, wird aber nicht diskutiert).

In beiden Lesearten kommt der kartesische Dualismus vor. In der naiven Lesart ist er aber nicht reflektiert: Die Figuren vertreten dort Eigenschaften auf eine ähnliche Art, wie es Figuren in der klassischen Literatur oft tun (man denke an die antiken Epen und Mythen): Sie inkorporieren diese Eigenschaften, sind nicht nach Eigenschaften strukturiert: Descartes ist Körper, Gillot ist Geist, der Geist erkennt (im Teil II), dass er nicht körperlos sein kann.

Die Pointe des kartesischen Dualismus aber ist gerade diese innere Struktur: der Geist erhält im Normalfall die Informationen über die Welt von den Sinnen, welche körperlich sind und beide, Körper und Geist, ergeben zusammen ein Individuum (erst dieses ist das ego). Das Projekt der Meditationes ist aber, dass der Geist aus sich selber so viel wie möglich erschliessen will. Dazu muss er zunächst einmal alles anzweifeln, was er über de Sinne weiss.

Dass diese innere Struktur in der naiven Lesart nicht vorkommt, macht es seltsam, den Text auf diese Weise zu lesen, wenn man die Meditationes kennt. Man kann die literarische Figur Grünbeins deswegen nicht mit den Theorien des Denkers verbinden. Diese Probleme löst die komplexe Lesart, da durch sie aus der philosophischen Idee des literarischen Descartes, er sei nur Geist, eine psychologisch-historische Interpretation der Biografie des historischen Descartes wird. Grünbein provoziert dann auf eine andere Weise, nämlich indem er in Descartes Theorien und in seiner Biografie Argumente dafür zu finden behauptet, dass Descartes persönliches Projekt war, möglichst nur Geist zu sein.

Der naive Leser, das ist üblicherweise ein Leser, welcher einen Text zum ersten Mal liest. Seine Naivität besteht in diesem angenommenen Normalfall darin, dass ihm Informationen fehlen, welche der Text erst zu seinem Ende offenbart. Speziell an Vom Schnee ist, dass der Teil II nur die grundlegende Irritation liefert: Die Figur Descartes scheint einen Wandel durchgemacht zu haben (übrigens ist dieser innere Wandel ein guter Grund, dafür zu argumentieren, dass wir es mit einer Romanfigur zu tun haben). Um zur komplexen Lesart zu gelangen, sind Kenntnisse von Theorie und Biografie Descartes notwendig, nicht, weil die literarische Situation und die literarische Figur offensichtlich diesen Theorien und Biografien entnommen ist, sondern weil die biographisch-historische Interpretation Grünbeins eine neue ist und der Leser dies gerade daraus erfährt, dass sich die Figur eben nicht überall so verhält und nicht immer dasselbe erlebt wie die historische Person und der Geist, wie wir ihn schlecht aus seinen Büchern kennen.

Der naive Leser von Vom Schnee ist also auf eine doppelte Weise naiv: Weder kennt er, den ersten Teil lesend, den Wandel, welchen die Figur durchmachen wird, noch kennt er notwendigerweise die Hintergründe, die er benötigen wird, um den Wandel zu verstehen.

Friday, March 20, 2009

The Vulgar and Bodily Experience: "Monsieur, erlaubt, ich muß mal pinkeln." (14.II.x)*

In a work centred around a philosopher like Descartes, the mind that brought us Cartesian dualism, one would expect a philosophical subject treated in a formal register. The form of Vom Schnee, with its approximate alexandrines and half-rhymes, implies an even more elevated diction. However, this turns out to be a mistaken assumption: At times Vom Schnee exhibits a striking predilection to revel in the vulgar, be it in subject matter or lexical choice. These two aspects correspond to the definition of the vulgar applied in this post. Vulgar is whatever, according to commonly accepted societal rules, is considered improper or taboo regarding subject and vocabulary.

In many cases Grünbein could have chosen other words to convey the same meaning. The line quoted in the title could have done without "pinkeln," which is vulgar or at least associated with childish (verbal) behaviour. Describing a horse, a line reads: "Und erst der Arsch - breit wie ein Scheunentor." (22.IV.iv) Instead of "der Arsch," one might have put "das Hinterteil." Further passages that could easily be reformulated without resorting to the vulgar are 8.V.x, 10.I.i, 34.IV.ix and 42.I.x. Obviously, one might argue that both changes proposed here affect the metre, but it would be no problem at all to work around that with another minor change.

Considering this, it seems that Grünbein specifically intends to emphasize and to dwell on the vulgar. Thus, "Monsieur, erlaubt, ich muß mal pinkeln" announces a whole stanza that describes how Gillot obeys the call of nature (14.III). Two stanzas in 8., IV and V, describe the miserable situation of Descartes who has apparently wet his bed. The end of this chapter both contrasts with and anticipates 14.III (where Gillot feels uncomfortable in the presence of Descartes):
Welch ein Spaß,
Breitbeinig dazustehn und hoch im Bogen schießt
Der heiße Strahl, der dir die Tränen in die Augen treibt.
Apropos Krieg: von allen Waffen ist - verzeih, Marie,
Die liebste mir noch der Urin, die Piß-Artillerie. (8.VII.vi-x)

In 9. three stanzas, I., II. and VI., are dedicated to Gillot's inability to rise to the occasion during the preceding night, to the great frustration of Marie. It seems awkward that a servant would tell his master about a shameful experience like this as if he were talking to an intimate friend. Interestingly, though, this episode leads Descartes to philosophical ruminations on the relation of body and mind:
[Descartes:] "Nicht nur der Geist, der Körper bockt,
Wenn ihm der Antrieb fehlt." [Gillot:] "Ach, es war wie verhext.
Das Fleisch war willig, doch das Hirn blieb renitent."
[Descartes:] "Kein Widerspruch." (9.II.v-viii)
Gillot alludes to the saying 'The spirit is willing but the flesh is weak' (of biblical origin, see Mark 14:38 and Matthew 26:41), yet 'spirit' has been replaced by 'brain.' The main twist, however, is that 'brain' - though bodily it metonymically represents the mind - and 'flesh' have exchanged their position in the sentence: 'The flesh was willing but the brain remained inert.' Triumphantly, Descartes states that this is no contradiction. An embarrassing incident, the mention of which is normally prohibited by taboo and thus vulgar, is turned into an argument in favour of Cartesian dualism.

Even though bodily experience is demeaned by resorting to a vulgar register, sexuality seems to be deeply connected to well-being, when Descartes inquires after Gillot's: "Wie stehts mit dir? Dir geht es gut, solange er sich regt..." (23.I.vii; emphasis in the original). The cynical overtone also apparent in 30.I.iv - "Wie gehts der Venus auf dem Dung?" - might be attributed to Descartes' disapproval of Gillot's sexual needs. And yet, another passage implies that Descartes himself has had an affair with Marie which he remembers with pleasure:
Er sank nun oft zurück in eine Zeit, so angenehm
Wie seither nichts. [...]
Sah ihren Leib. Am Po die Sommersprossen, auf den Händen. (36.VII.iv-v & viii)

It might therefore be nothing but jealousy that led him to demean Marie earlier. It is probably no coincidence that Descartes compares paradise and the female body and posits the latter as more real by far: "Das Paradies, hast dus gesehn, wie den Popo Maries?" (27.V.iii)

On the whole, Grünbein's resort to the vulgar in subject matter stresses the bodily component of human beings. Vulgar vocabulary emphasizes this point further and leads to an awareness that sometimes there are no other registers available to express bodily experience. The existence of a category such as the vulgar in itself reflects the notion that the immaterial is superior to the material, which is deeply rooted in Western culture since Plato (whose work is referred to in 16.VII.iv-v). It is precisely this preference of mind and soul over the body that Vom Schnee challenges.

* Instead of page references, I use the following system: The Arabic numbers refer to the chapter/poem, capitalized Roman numerals to the stanza and lower-case Roman numerals to the verse.

Work Cited
  • Grünbein, Durs. Vom Schnee. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003.

Thursday, February 19, 2009

Der vorborgene Mensch: Vom Schnee

Descartes ist der in der Fabel des Cartesianismus verborgene Mensch. (Der cartesische Taucher, 110)

Man geht auf die Suche nach einer Person, die inzwischen nur aus Papier besteht. Dazu kommen zwei Probleme: diese Person hat mehr Wert auf seinen Gedanken als auf seiner Körperlichkeit gelegt, und diese Person hat seinen Namen nicht nur einer philosophischen Richtung gegeben, sondern auch einer Weltanschauung, die die Geschichte der Welt verändert hat.

Wie findet man eine Person, die nur aus Papier besteht? Mit Papier:

Gefangen sitzt Ihr, Euer Doppelgänger, in den Strophen
Von einem, der Euch schlecht aus Euren Büchern kennt. (32)

Man spricht ihn an und hofft auf Antwort, man stellt sich vor, wie er mit anderen gesprochen hat, wie er sich selbst in seiner Fabel verbarg. Dabei vergisst man nie, dass es hier um die Person geht, um den Menschen, um seine Körperlichkeit, wenn man ihn so etwas sagen hört:

"Entweder suchst du hier die Wahrheit, hier im Innern.
Oder du folgst dem Augenschein—und wer du bist,
Bleibt unbestimmt wie das Ensemblespiel der Sinne.
Und damit Schluß. Heiz den Kamin. Mich friert." Er ißt. (18)

Man lässt ihn sprechen, philosophieren, und man lässt die Körperlichkeit das Philosophieren unterbrechen—in einer Weise, die gerade diese Philosophie ironisiert? Dieser Descartes setzt auf eine "innere Wahrheit" gegen "den Augenschein" und die Sinne, und deshalb auch gegen den Körper überhaupt. "Und damit Schluß": er beendet sein Philosophieren und wendet sich seinen Körper zu: ihm ist kalt, er hat Hunger.

Es kann nicht darum gehen, die Philosophie von Descartes mit seiner Körperlichkeit zu widersprechen—das wäre langweilig (und es gäbe kaum den Impuls, dieses Buch zu schreiben). Es muss eher darum gehen, die Welt der Körperlichkeit, der Kälte, des Hungers, des "Drecks" (der immer wieder am Anfang des Buchs thematisiert wird) gleichzeitig mitzudenken, und nicht außen vor stehen zu lassen.