Im Seminar diskutierten wir zwei Arten, Vom Schnee zu lesen: Wir nannten die eine die 'naive Lesart', nach welcher Teil I vom jungen Denker Descartes in Deutschland, seinem die sinnliche Sphäre repräsentierenden Diener Gillot und dessen Geliebten Marie handelt. Eine komplexere Lesart ist dann diejenige, welche Gillot als sinnlichen Teil und inneren Monologpartner von Descartes ansieht, der sich damit selbst als reinen Geist versteht. Wie üblich ist die komplexere Lesart erst nach einer ersten, naiven Lektüre zugänglich. Dieser Beitrag versucht, herauszufinden, auf welche Art das Verhältnis eigen ist gegenüber anderen Texten, in welchen zwei Figuren sich als Teile einer 'wahren' (immer noch fiktiven) Figur herausstellen (Chuck Pahlaniuks Fight Club könnte als Gegenbeispiel der jüngeren Vergangenheit dienen, wird aber nicht diskutiert).
In beiden Lesearten kommt der kartesische Dualismus vor. In der naiven Lesart ist er aber nicht reflektiert: Die Figuren vertreten dort Eigenschaften auf eine ähnliche Art, wie es Figuren in der klassischen Literatur oft tun (man denke an die antiken Epen und Mythen): Sie inkorporieren diese Eigenschaften, sind nicht nach Eigenschaften strukturiert: Descartes ist Körper, Gillot ist Geist, der Geist erkennt (im Teil II), dass er nicht körperlos sein kann.
Die Pointe des kartesischen Dualismus aber ist gerade diese innere Struktur: der Geist erhält im Normalfall die Informationen über die Welt von den Sinnen, welche körperlich sind und beide, Körper und Geist, ergeben zusammen ein Individuum (erst dieses ist das ego). Das Projekt der Meditationes ist aber, dass der Geist aus sich selber so viel wie möglich erschliessen will. Dazu muss er zunächst einmal alles anzweifeln, was er über de Sinne weiss.
Dass diese innere Struktur in der naiven Lesart nicht vorkommt, macht es seltsam, den Text auf diese Weise zu lesen, wenn man die Meditationes kennt. Man kann die literarische Figur Grünbeins deswegen nicht mit den Theorien des Denkers verbinden. Diese Probleme löst die komplexe Lesart, da durch sie aus der philosophischen Idee des literarischen Descartes, er sei nur Geist, eine psychologisch-historische Interpretation der Biografie des historischen Descartes wird. Grünbein provoziert dann auf eine andere Weise, nämlich indem er in Descartes Theorien und in seiner Biografie Argumente dafür zu finden behauptet, dass Descartes persönliches Projekt war, möglichst nur Geist zu sein.
Der naive Leser, das ist üblicherweise ein Leser, welcher einen Text zum ersten Mal liest. Seine Naivität besteht in diesem angenommenen Normalfall darin, dass ihm Informationen fehlen, welche der Text erst zu seinem Ende offenbart. Speziell an Vom Schnee ist, dass der Teil II nur die grundlegende Irritation liefert: Die Figur Descartes scheint einen Wandel durchgemacht zu haben (übrigens ist dieser innere Wandel ein guter Grund, dafür zu argumentieren, dass wir es mit einer Romanfigur zu tun haben). Um zur komplexen Lesart zu gelangen, sind Kenntnisse von Theorie und Biografie Descartes notwendig, nicht, weil die literarische Situation und die literarische Figur offensichtlich diesen Theorien und Biografien entnommen ist, sondern weil die biographisch-historische Interpretation Grünbeins eine neue ist und der Leser dies gerade daraus erfährt, dass sich die Figur eben nicht überall so verhält und nicht immer dasselbe erlebt wie die historische Person und der Geist, wie wir ihn schlecht aus seinen Büchern kennen.
Der naive Leser von Vom Schnee ist also auf eine doppelte Weise naiv: Weder kennt er, den ersten Teil lesend, den Wandel, welchen die Figur durchmachen wird, noch kennt er notwendigerweise die Hintergründe, die er benötigen wird, um den Wandel zu verstehen.
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