Thursday, May 7, 2009

Den Berg bezwingen?

(Vorbemerkung: Dieser blogpost behandelt ganz offensichtlich nicht Ransmayers Buch. Er gibt im besten Fall einen Referenzpunkt, mithilfe dessen man 'Der fliegende Berg' in der Abenteurerliteratur verorten kann).

Erstbesteigungen sind rar geworden. Dies, so eine intuitive Antwort, aufgrund des technischen Fortschritts was Kartographie, Ausrüstung und Medizin betrifft. Bis ins neunzehnte Jahrhundert, in welchem viele dieser Gebiete entscheidend vorankamen, waren solche Expeditionen aber häufige Unternehmungen, welche ausserdem von den entstehenden Staaten materiell unterstützt wurden. Letzteres deshalb, weil der aufkommende Nationalismusdiskurs es für die Elite eines Staates auf eine Weise notwendig machte, ihr Land als das Beste dastehen zu lassen, die uns heute nur noch schwer vorstellbar ist.
Als eine Art Leistungsnachweis lieferten die Abenteurer dem Staat nicht nur Pflanzen und kulturelle Relikte ab, sondern auch Reisetagebücher, also Dokumentationen der Expedition. In einem der wohl bekanntesten Tagebücher dieser Art schreibt der deutsche Forscher Alexander von Humboldt: „[...] sammelten wir viele Steine, von denen wir 2 Sammlungen nach Madrid und Paris schickten und die dritte für das Kabinett des Königs in Berlin bei uns behielten. Wer in Europa würde nicht einen Stein vom Chimborazo haben wollen, und wo gibt es bis heute ein Kabinett, das einen solchen besitzt?“ (Humboldt 2006: 98f.).
Insbesondere ist es aber für diesen klassischen Versuch einer Bergbesteigung im frühen 19. Jahrhundert (Humboldt verfehlte das Ziel, den Gipfel, knapp, weshalb es kein Wunder ist, dass er im Nachhinein befand: „Welchen Nutzen hätte man davon, wenn man seine Instrumente 200 Toisen höher trüge, auf ein Gelände, wo das Gestein sich der Beobachtung entzieht, auf einen Berg, der für magnetische Experimente ungeeignet ist, weil das Gestein die Magnetnadel beeinflußt und selbst Pole besitzt“ (ebd.: 97).) typischerweise ganz zentral, dass es sich um eine Erstbesteigung handelt: „Auch sind wir die ersten Naturforscher gewesen, die diesen Koloß eigens aufgesucht haben. Née und Piñeda haben ihn nur beim Überqueren der ensillada [des Gebirgspasses] gesehen“ (ebd.: 99). Für die nationalistisch motivierten Geldgeber der Expedition wäre es äusserst unglücklich, zu wissen, dass ‚Eingeborene’ den Berg bereits bestiegen hatten, der ja nun als grosse Leistung der deutschen Nation zum ersten Mal von einem Deutschen bestiegen werden sollte.
Natürlich lässt sich an diesem Punkt die Bezeichnung der Erstbesteigung vielfach problematisieren. Auf eine Weise zum Beispiel als männliche Selbstbehauptung (eigenartig: eine Gender-Perspektive auf Menschen in der Vertikale). Auf eine andere Weise, weil nur, dass die zwei einheimischen Führer noch nie auf den Gipfel des Chimborazo bestiegen hatten, noch nicht heisst, dass ihnen nicht andere Menschen zuvorgekommen waren. Mit dieser Problematisierung entmystifiziert sich die ganze Idee einer Erstbesteigung natürlich. Und wirklich: wer traut sich heute noch, zu behaupten, er sei der erste Mensch an einem Ort? Erstbesteigungen sind nicht einfach rar, sie sind gar, die gestrigen wie die heutigen, dubios geworden.

Literatur:
- Humboldt, Alexander von: Ueber einen Versuch den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen. Hg. von Oliver Lubrich u. Ottmar Ette. Berlin 2006.

Abbildung:
- Alexander von Humboldt und Aime Bonpland am Fuß des Vulkans Chimborazo. Gemälde von Friedrich Georg Weitsch (1810). Dieses Bild ist gemeinfrei.

1 comment:

  1. Eine literarische Verarbeitung von Alexander von Humboldts "Besteigung" des Chimborazo findet sich übrigens bei Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt (Reinbeck b.H.: Rowohlt 2005).

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