Wednesday, March 18, 2009

Durs Grünbein: „Die Zeit spielt gegen dich, mein Freund“ (53) „Ich bin stockblind. Ich kann nur sehn, was ich versteh.“ (59)


Vom Schnee ist ein völlig anderer Versroman als For all we know. Nicht nur die Form unterscheidet sich enorm. Nach den Fugue-Sonnetten von Carson, widmen wir uns nun einer in 42 Cantos verteilten Eloge aus jeweils sieben zehnzeiligen Strophen mit alexandrinerähnlichen Verszeilen. Mit diesem Erzählgedicht, das durch seine vielfältigen sprachlichen und formalen Facetten fasziniert, knüpft Grünbein an epische Werke von Dante, Milton und Goethe an und stellt sich in ihre Reihe. Doch die Form ist nicht das Einzige, was sich von For all We Know unterscheidet. Grünbein basiert sein Werk auf einer historischen Figur, Descartes, dessen Biographie und Philosophie, und zeichnet eine Persönlichkeit und ihre Bedürfnisse nach, welche zuvor meist ignoriert wurden. Die Person hinter den Schriften wird sicht- und spürbar. Dennoch nähern wir uns dieser Persönlichkeit wiederum durch Papier. Das Hörbuch könnte uns da jedoch einen alternativen Zugang verschaffen.

Bin ich doch leider wenig philosophisch veranlagt und begabt, habe ich Vom Schnee doch sehr in mich aufgesogen. Die humorvollen Dialoge haben mich oft zum Schmunzeln gebracht und ich habe das Erzählgedicht in einem Sog verschlungen. Vernachlässige ich die philosophischen Abhandlungen, fällt auf, dass die Themen, welche Descartes beschäftigen, sich gar nicht so grundlegend von denen von Gabriel unterscheiden. Ninas Uhren symbolisieren die Vanitas der heutigen Zeit, während Grünbein, diese Vergänglichkeit folgendermassen ausdrückt:

„Wenn ich nur zeichnen könnte, Herr. Ein Bild sagt mehr-" „Ich weiss, als tausend Worte.“ „Diesen Augenblick: Wer hält ihn fest?“ „Den Raum frisst Zeit, und dann verzehrt Der Raum die Zeit. Nichts bringt den Duft des Tags zurück.“ „Jetzt malt Ihr schwarz.“ „Ich sage nur: nichts bleibt, wies ist.“ „Die eine Nacht… ihr weicher Körper…alles ausradiert?“ (S. 42)

Das Wortspiel mit bekannten Sprichwörtern und Redewendungen in dieser Passage macht ein weiteres Merkmal des amüsanten und literarisch hervorragenden Versromans aus.

Wie Carson beschäftigt sich Grünbein auch mit der Wahrheit: „Die Wahrheit hilft dir selten, das Gesicht zu wahren.“ (S. 51). Deshalb widmet sich Grünbein vielleicht auch intensiv dem Traummotiv, weil er darin (im Unbewussten) die reinere Wahrheit zu finden hofft.

„Nur Ihr entkommt – mit Glück – dem Labyrinth der Zeit.“ (97) Und diesem Labyrinth kann die Liebe etwas entkommen. Aber:

Was Liebe ist? Jetzt, da er wachliegt, weiss er es genau. Ein Embryo, der wächst im Sprung der Lebensalter, Und dennoch klein und schwach und ungeboren bleibt. Das Paradox: der Mann trägt unterm Herzen ihn, die Frau Der Larve gleicht er, die beim Schlüpfen stirbt. Den Falter, Wer sah ihn je, zerdrückt im Lustgewühl der Leiber? Kaum einer zeigt schon, was da tief zuinnerst bebt. Nicht Diskretion, die Angst vor Ohnmacht unterdrückt, Was da verkannt, im Eingeweide schmachtend, lebt, Und will ans Licht. So mancher wird, enttäuscht, verrückt. (128-129).

Nach all den Bedürfnissen, Gefühlen und Gedanken gönnt sich Descartes gegen Ende des Versromans etwas Ruhe, wie die Natur im Winter. Dazu wird er von seinem Freund und Helfer (Grünbein oder Gillot?) aufgefordert:

Ruht Euch nun aus. Habt ihn verdient, den Schlaf. Ihr seid nicht Hamlet. Im Millionenschwarm nicht irgendeiner. Durchs Schlüsselloch drang sie zu Euch herein, die Welt. Man wird sie lesen, schon aus Argwohn, Eure Paragraphen. Im Glashaus sitzt Ihr, werft, längst tot, gezielt mit Steinen. Ihr wisst sehr gut, wie schnell ein Weltbild auseinanderfällt. Doch bis dahin habt Ihr den Kosmos, Stück für Stück, Gezählt, geprüft – gespannt, wohin ein jedes fällt. Klug sein und rechnen können: das, nur das war Glück. Die Welt des Denkenden, Ihr habt sie frei gewählt (134).

Am Ende bleiben die Fragen, welche die Menschen sich seit jeher stellen. Was ist der Sinn des Lebens? Wer sind wir? Was ist Liebe? Wieso vergeht die Zeit so schnell? Aber wenn wir uns alle etwas Ruhe zum Sinnieren gönnen – und der nächste Schnee kommt bestimmt – dann können wir uns den Antworten zu diesen Fragen für uns persönlich vielleicht annähern. Ich freue mich jedenfalls schon sehr auf den nächsten Schnee.

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